Es ist 70 Jahre her, als England sudetendeutsche Frauen „Sudetenländerinnen“ zum Arbeiten nach Großbritannien anwarb. Auf den westdeutschen Arbeitsämtern lagen Anwerbeformulare aus. Viele junge Frauen haben vor allem aus Gründen der herrschenden Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sich dazu entschlossen, den Weg nach England zu gehen, auch aus unserem Heimatkreis Komotau. Das vierseitige Anwerbeformular war zweisprachig und endete wie folgt: Hiermit erkläre ich, dass ich die obigen Arbeitsbedingungen gelesen habe, daß ich sie verstehe und mich denselben unterwerfe. Ich erkläre ferner, dass ich alleinstehend, ungebunden und ohne Anhang bin. Ich verpflichte mich, fleißig zu arbeiten und mich gut zu führen. Ein Zeuge musste mit unterschreiben.
Und so lauteten die Arbeitsbedingungen:
1. In der amerikanischen Zone wohnhaften Sudetenländerinnen werden aufgefordert, sich um Arbeit in Großbritannien zu bewerben. Arbeitskräfte werden vor allem für die Textilindustrie (Baumwoll-, Woll- und Kunstseidenfabriken) gesucht. Arbeiterinnen können auch für andere Industriezweige benötigt werden, z.B. Töpferei. Daher muß jede Bewerberin bereit sein, jeden angemessenen ihr zugewiesenen Arbeitsposten anzunehmen. Nur ledige Frauen oder Witwen ohne Anhang, im Alter von 18 bis einschließlich 35 Jahren, die sich bester Gesundheit und guten Leumund erfreuen, können angenommen werden. Im Rahmen dieses Arbeitsvermittlungsplanes steht ein etwaiges Nachreisen von Verwandten nach drüben ganz außer Frage.
2.Die Bewerberinnen müssen sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen.
3. Die zur Arbeit angenommenen Frauen dürfen in Großbritannien ohne zeitliche Beschränkung des Aufenthaltes einreisen, jedoch unter folgenden Bedingungen:
a) Sie müssen sich sofort bei der Polizei melden,
b) Sie müssen den vom britischen Arbeitsministerium ihnen zugewiesenen Posten antreten und
c) dürfen denselben nicht ohne Zustimmung verlassen.
Fahrt, Unterkunft und Verpflegung während der Reise nach Großbritannien sind frei.
4.Nach Ankunft in Großbritannien wird den Frauen ausgezahlt: L 1.-.- (ein Pfund Sterling) und danach fünf Schilling pro Woche Taschengeld bis zur Zuweisung eines Arbeitsplatzes. Zunächst werden sie in einem Warteheim bei freier Verpflegung untergebracht werden. Gewöhnlich wird Ihnen sehr bald nach Ankunft eine Arbeitsstätte angewiesen.
5.Dann werden sie entweder in Heimen oder privat wohnen, wofür sie das gleiche bezahlen werden wie ihre britischen Arbeitskolleginnen für entsprechende Unterkunft. Der dafür zu zahlende wöchentliche Betrag dürfte zwischen 25/- bis 35/- (25 bis 35 Schilling) liegen. Gewöhnlich ist darin, außer am Wochenende, das Mittagessen nicht mit einbegriffen, jedoch sind in den meisten Fabriken Kantinen, in denen Mittagessen billig ausgegeben werden.
6.Die Sudetenländerinnen werden unter genau den gleichen Bedingungen eingestellt wie die britischen Arbeiterinnen und erhalten die gleichen Löhne. Für ungelernte Frauen schwankt der Wochenlohnsatz je nach der Beschäftigungsart zwischen 55/- und 70/-. Gelernte Arbeiterinnen werden in gewissen Industriezweigen entsprechend der Stückzahl entlohnt und können dadurch mehr als die Mindestsätze verdienen. Die übliche Arbeitszeit ist 44 bis 45 Stunden pro Woche. In einigen Industriezweigen können Frauen nur angenommen werden, wenn sie bereit sind, einer Gewerkschaft beizutreten.
7.Betreffs der Lebensmittelzuteilung erhalten die Sudetenländerinnen die gleichen Rationen wie die britischen Arbeitskräfte. Der britische Lebensmittelstandard ist höher als der deutsche. In Großbritannien sind verschiedene Lebensmittel gar nicht rationiert, auch sind die Mahlzeiten in den Kantinen, Restaurants und Cafes markenfrei. Die Bekleidung ist in Großbritannien nicht mehr rationiert.
8 .Einkommensteuerabzüge erfolgen auf der gleichen Basis wie bei den britischen Arbeitskräften.
9. In Bezug auf Arbeitslosen- und Krankenversicherung besteht ebenfalls völlige Gleichstellung, die gleichen Beiträge sind zu zahlen, es entsteht Anspruch auf die gleichen Leistungen. Ab Ankunftstag in Großbritannien ist die ärztliche Behandlung frei, dagegen sind bei Arbeitslosigkeit oder Erkrankung Leistungen erst nach Ablauf einer Wartezeit und nach Einzahlung einer gesetzlich festgelegten Mindestanzahl von Beiträgen auszahlbar. Bei Erkrankung oder Arbeitslosigkeit vor Ablauf der Wartezeit wird eine Sonderhilfe gewährt. Die Arbeiterinnen können sich jederzeit an den Wohlfahrtsdienst des Arbeitsministeriums (Ministry of Labour Welfare Service) wenden.
10. Die Sudetenländerinnen haben bei Unfällen, die sich aus und im Verlauf ihrer Arbeitsbeschäftigung ergeben, die gleichen Entschädigungsansprüche auf Grund der britischen Gesetzgebung wie die britische Arbeiterschaft.
11. Sudetenländerinnen werden an Freunde oder Verwandte Pakete unter den gleichen Bedingungen senden können wie die britischen Staatsbürger. Es ist erlaubt, kleine Mengen von vielen Dingen zu verschicken, die in Deutschland nicht leicht erhältlich sind. Jedoch ist der Versand von unrationierten Lebensmitteln und von bestimmten, der Bewirtschaftung unterliegenden Waren ganz verboten oder stark eingeschränkt. Eine Möglichkeit von Geldüberweisungen nach Deutschland wird zur Zeit noch erwogen.
12. Nach Großbritannien darf soviel persönliches Gepäck mitgenommen werden, wie die Einreisende selbst tragen kann. Unter keinen Umständen ist die Mitnahme von zum Verkauf oder Tausch bestimmten Gegenständen erlaubt, insbesondere keine Sachen, die zollpflichtig sind oder der Einkaufssteuer unterliegen, wie Photoapparate, Uhren usw.
13. Nach fünfjährigem Aufenthalt in Großbritannien können die im Rahmen dieser Arbeitsvermittlung eingewanderten Frauen die britische Staatsbürgerschaft beantragen.
14. Den unter dieser Vermittlung nach Großbritannien übersiedelten Frauen wird es nicht möglich sein, sich in die englische Volksgemeinschaft einzuleben, wenn sie nicht die englische Sprache erlernen. Dazu wird ihnen Gelegenheit geboten werden. Es wird vorausgesetzt, dass übersiedelte Frauen sich sobald wie möglich nach ihrer Ankunft befleißigen werden, die englische Sprache schnellstens zu erlernen.
Aus Aufzeichnungen und Gesprächen mit betroffenen Frauen:
Es war für die meisten nicht leicht, nach dem gewaltsamen Verlust der Heimat, eine weitere Entfernung, der von der Familie zu vollziehen. Dennoch wagten die sudetendeutschen Frauen - und nur Frauen waren gefragt - den Schritt nach England. Nach der ärztlichen Untersuchung am Wohnort ging es nach Münster, wo ein Sammellager für die verpflichteten Frauen eingerichtet war. Nach erreichen einer bestimmten Anzahl von Frauen ging es weiter. Mit dem Zug nach Hoek van Holland und mit dem Frachtschiff setzten wir über nach Harwich. Viele von uns erinnerten sich da an das Lied: „Gegen Engeland…
Nach einem Zwischenaufenthalt in einem Sammellager in Cambridge, wo wir wieder untersucht wurden, ging es dann nach Nordwestengland in die Region Oldham, da waren zu dieser Zeit die meisten Baumwollfabriken. Zunächst waren wir für eine Woche in einem alten Airforcelager untergebracht bis wir einen Arbeitsplatz und eine Wohngelegenheit zugeteilt bekamen. In der Regel teilten sich drei Personen ein Zimmer und noch mehr Hausbewohner eine Küche und das Bad.
Nach dem verpflichteten Jahr konnten wir entscheiden, ob wir zurück nach Deutschland oder bleiben wollten. Die meisten blieben, denn sie hatten sich eingewöhnt und Bekanntschaften geschlossen, insbesondere mit Frauen und Männern aus Polen und der Ukraine, die während des Krieges in Deutschland waren und nicht in ihre Heimat zurück wollten und nun mit uns hier arbeiteten. Das Beisammensein am Arbeitsplatz, gemeinsame Freizeit, religiöse Kultur führten zu Eheschließungen und Familiengründungen und waren ein Grund zum Verbleiben auf de Insel.
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Die englische Gesellschaft hat uns „Gastarbeiter“ freundlich aufgenommen. Das Erlernen der englischen Sprache wurde gefördert und erschloss uns, in andere Beschäftigungen zu wechseln. Neben der Baumwollindustrie waren dies Arbeiten in den Krankenhäusern und Haushalte, die angeboten waren. Durch Weiterbildung und Studium haben unsere sudetendeutschen Frauen Positionen in gehobenen Stellungen erreicht.
Heute sind die Mädchen von damals längst Mütter und Großmütter in der englischen Gesellschaft, doch ihre Herzen schlagen noch im Rhythmus unserer sudetendeutschen Heimat. Ihre Nachkommen erfahren die Geschichte durch Erzählungen und den geschriebenen Worten, wie in unserer Komotauer Heimatzeitung dokumentiert.