Der Gedenktag für die Opfer
von Flucht und Vertreibung
von Helmut Mürling
Abend des 20. Juni 2020 in Deutschneudorf. Ein sonniger Tag geht zu Ende. Sommer- Sonnenwende. Michael Harzer, Pfarrer der bekannten Bergkirche im Kurort Seiffen rüstet zur Abendandacht in seiner Filialkirche Deutschneudorf. Wegen der Corona- Pandemie sind die Umstände anders als zu normalen Zeiten. Der Geistliche ist alleine in der Kirche. Der Wortgottesdienst wird auf dem sozialen Netzwerk „Facebook“ und später noch auf dem Netzwerk „Youtube“ übertragen. Pfarrer Harzer hat darin bereits Übung. Er hat schon mehrere solche Gottesdienste aus seinen Kirchen im Netz stehen. Der heutige ist deshalb in Deutschneudorf, weil am 9.Juni 1945 der Komotauer Todesmarsch hier sein vorläufiges Ende gefunden hat. Wegen Corona war am 9. Juni nur ein stilles Gedenken mit Kranzniederlegung an der Gedenkstätte möglich gewesen, an der Hans Peter Haustein, Bürgermeister von Olbernhau, Claudia Kluge, Orts- Bürgermeisterin und zwei Herren des öffentlichen Lebens anwesend waren.
Die Andacht wird eingeleitet mit einem Sopransolo des bekannten: „Wohin soll ich mich wenden“ aus der Schubertmesse, gesungen von Kathrin Ulbricht. Pfarrer Harzer begrüßte die Zuhörer der Heimatgemeinden Komotau, Brüx, sowie die Gläubigen in Gebirgsneudorf, Böhmisch- Einsiedel, Katharinaberg und Kleinhan. Er erinnerte an die erste wilde Vertreibung und den Todesmarsch von Komotau vor 75 Jahren. Heute soll daran erinnert und zu Gott gebetet werden, dass solches nie wieder geschehen möge. Nach dem Lied zum Gloria, das der Pfarrer persönlich und lautstark mit Orgelbegleitung vortrug, folgte die Lesung aus den Klageliedern des Jeremias. Diese Lesung passt sehr gut zu Vertreibung und Todesmarsch: „Die Güte des Herrn ist´s , dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“ Die Gesänge wurden begleitet mit Bildern der Kirchen aus der Umgebung. Diese bilden wahre Schätze in der Ausstattung ihres Interieurs.
Seine Predigt richtete der Pfarrer am Geschehen der wilden Vertreibung und des Todesmarsches und der Zwangsarbeit von Maltheuern aus. Nur noch wenige Zeitzeugen gibt es, die vom persönlichen Erleben des grausamen Geschehens berichten können. Pfarrer Harzer erinnerte an die Exzesse von Außig, Postelberg und Saaz. Aber auch an die Racheakte der näheren Umgebung, in Kleinhan, Katharinaberg, Brandau und Gebirgsneudorf. Das alles wird überlagert vom Todesmarsch der Komotauer Männer am 9. Juni 1945. Stabskapitän Prasil hatte das Kommando in Komotau, als sich alle Männer zwischen 13 und 65 Jahren am Jahnspielplatz aufstellen mußten. 15 Männer wurden wegen angeblicher Zugehörigkeit zur SS totgeprügelt. Beim anschließenden Todesmarsch über das Gebirge verloren etwa 70 Männer durch Genickschuß das Leben, weil sie den mörderischen Bedingungen des Marsches nicht folgen konnten. Sie wurden zwischen Görkau und Eisenberg und darüber hinaus an unbekannten Stellen „verscharrt“. Ihre Gräber kennt niemand. Die verängstigte Bevölkerung der Dörfer wagte kaum einen Blick aus den Fenstern, denn dann wurde auf sie geschossen. Der Todeszug erreichte am Nachmittag Deutschneudorf. Mehrere Tausend Männer sollten der sowjetischen Besatzungsmacht überstellt werden. Doch die verweigerten dies. Diese Verhandlungen zogen sich 2 Tage hin. Währenddessen lagerten die Komotauer Männer auf der Straße in Gebirgsneudorf, ohne Nahrung, kaum zu trinken und immer bedroht von den Waffen der Peiniger. Am dritten Tag ging der Zug zurück nach Maltheuern/ Zaluzi. Dort waren die Männer weiterhin der Willkür der Lagerbesatzung ausgesetzt. Öffentliche Schikanen bis hin zu Exekutionen waren an der Tagesordnung. Die Frauen und Kinder daheim fanden sich im Gebet des Ave Maria und des Vaterunser und der Schubertmesse zusammen, die auch heute hier erklingt. Der Prediger erinnerte erneut an die vorhin zitierten Worte des Propheten Jeremias über die Barmherzigkeit Gottes und an die Worte des Gottessohnes am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Und es wird so mancher Leidgeplagter dieser Zeit Trost in Gott und der Jungfrau Maria gefunden haben.
In der gegenwärtigen Zeit ist man dabei, diesen Teil der Geschichte auszuradieren. Das dürfen wir nicht zulassen.
Die damals Heimatvertriebenen wurden zu Säulen der Geschichte. Ohne sie wäre beispielsweise der Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg in Rekordzeit nicht gelungen.
An der Versöhnung der Völker von Sachen und Böhmen, von Tschechiens und Deutschland und von Europa und der ganzen Welt müssen wir Brücken bauen, damit Solches nie wieder geschehen möge. In das „Amen“ des Pastors wollen wir alle mit einstimmen.
Nach dem Gesang des Liedes „ Mein Heiland, Herr und Meister“ sprach Pfarrer Harzer die Fürbitten für die Lebenden und Verstorbenen der Vertreibung:
Wörtlich betete er:
„75 Jahre sind es her, dass 8.000 Komotauer Männer vom dortigen Jahnsportplatz aus das Erzgebirge hinaufgetrieben wurden. Viele wurden erschossen, gequält und gedemütigt. Hier an dieser Stelle sollten sie der Sowjetischen Besatzungsmacht übergeben werden. Als dies nicht gelang, mussten sie bis zu 1 1/2 Jahre Zwangsarbeit in den Arbeitslagern von Maltheuern/ Zaluzi leisten. Stellvertretend für die Gemeinde der heimatvertriebenen Komotauer, die coronabedingt nicht anwesend sein kann bitten wir Dich Herr unser Gott:
Wir bitten für alle einstigen Teilnehmer des Todesmarsches von Komotau und die Insassen der Arbeitslager Maltheuern. Schenke ihnen die Kraft, ihren Peinigern zu verzeihen.
Christus höre uns.... Alle: Christus erhöre uns
Wir bitten für alle Verstorbenen des grausamen Geschehens. Schenke ihnen Deine ewige Seligkeit.
Christus höre uns... Alle :Christus erhöre uns
Wir bitten für die Bewohner von Gebirgsneudorf, die den Teilnehmern am Todesmarsch Nahrung und Unterkunft geschenkt haben. Belohne sie mit den ewigen Freuden.
Christus höre uns... Alle: Christus erhöre uns.
Lass uns, Herr und Gott das grausame Geschehen immer in Erinnerung behalten.
Christus höre uns.... Alle: Christus erhöre uns.
Wir bitten für alle Deutschen, die nur, weil sie Deutsche waren aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden.
Christus höre uns... Alle: Christus erhöre uns.
Wir beten für Jene, die an den Folgen der Vertreibung heute noch seelisch und krankheitsbedingt leiden. Lass sie, Herr, ihre Leiden standhaft ertragen. Christus höre uns... Alle: Christus erhöre uns.
Wir beten für unsere Ahnen, die auf den Friedhöfen der Heimat ruhen und auf deren Gräbern nie eine Kerze brennt. Christus höre uns.....Christus erhöre uns
Wir bitten Dich, Herr und Gott, um Verzeihung für die Gewalttaten, die im deutschen Namen fremden Völkern angetan wurden. Christus höre uns.... Christus erhöre uns.
Herr und Gott, schenke uns die Einsicht und den Willen, uns mit unseren Vertreibern auszusöhnen. Christus höre uns... Christus erhöre uns.
Herr und Gott, schenke aber auch den Vertreibern dieselbe Einsicht, damit auch sie zu den Gräueltaten stehen, die sie an uns verübt haben. Christus höre uns... Christus erhöre uns
Laßt uns das Gebet des Herren sprechen:
Vater unser…“
Nach dem Vaterunser spendete Pfarrer Harzer Allen den dreifaltigen Segen Gottes. Kathrin Ulbricht sang, von der Orgel begleitet zum Schluß das „Heilig ist der Herr“ von Franz Schubert. Zum Ausklang fügte Webmaster Mürling noch Bilder heimatlicher Kirchen hinzu, begleitet mit dem Schluß-Lied der Schubertmesse „Herr, du hast mein Flehn vernommen“. Der Dank des Heimatkreises Komotau bildete im Abspann den Schluß des Videos:
Sehr geehrter Herr Pfarrer Harzer,
ein herzliches Vergelts Gott für diesen Ihren Gottesdienst. In Zeiten von Corona muß, statt einer Gedenkfeier ein solcher diese ersetzen. Ihre Predigt schildert das ganze grausame Geschehen des 9. Juni 1945 und die Tage danach. Die Einlagen aus der Schubertmesse sind beeindruckend. Die Bilder aus dem umliegenden Kirchen ebenfalls.
Besonderen Dank aber für die Fürbitten zum Schluß des Gottesdienstes. Zeigen sie doch, daß unser Bestreben Versöhnung ist, mit dem Wunsche, es möge nie mehr solches geschehen.
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